freies Schreiben

In der Öffentlichkeit wird das „Freie Schreiben“ diskutiert, weil mancherorts behauptet und geglaubt wird, man dürfe von Kindern nur möglichst lange keine Rechtschreibung verlangen, dann stelle sie sich schon von allein ein. Das ist natürlich Unsinn.

ein Liebesbrief

„Freies Schreiben“ bedeutet eigentlich, dass Kinder nicht Texte schreiben müssen, deren Thema und Stil vorher schon festgelegt sind, sondern das auf dem Papier erzählen dürfen, was von ihnen erzählt werden will, und dass es dafür auch nicht immer schon Sprachregelungen gibt.

Es versteht sich von selbst, dass Schreibanfänger nicht alle Wörter schon richtig schreiben können, die sie für solche Texte brauchen. Also dürfen sie drauflos schreiben. Soll so ein Text aber veröffentlicht, d.h. anderen gezeigt und von ihnen gelesen werden, muss er in Ordnung sein. Zuerst wird die Lehrerin, der die Schreibfreude der Kinder kostbar ist, ihnen ihre Texte zur Veröffentlichung korrekt abschreiben. Dann kann sie sie mit Radiergummi und Bleistift ausputzen. Und erst später wird sie die Kinder veranlassen, sie selbst ein zweites mal, nun aber ganz korrekt zu schreiben.


Das Können jeden Kindes achten

Onur versucht als begeisterter Fußballer es seinem großen Bruder Gökhan gleichzutun, wenn nicht schon auf dem Platz, so doch auf dem Papier in kraftvollem Selbstentwurf: Mit einem Fallrückzieher schießt er ein Tor. Und er schreibt es auf: feilrkzir und tor. Drei Wörter, davon zwei auf den ersten Blick fehlerhaft. Aber wieviel Können zeigt dies Werk! Nach etwa sechs Monaten im ersten Schuljahr kann Onur alle Buchstaben, die er braucht, sauber und sicher schreiben, und zwar schon die Kleinbuchstaben. Die beiden Hauptwörter schreibt er noch klein.

Oder aber: Er bleibt bei den kleinen Buchstaben, wo er nicht sicher ist, dass ein großer Buchstabe nötig ist. Das ist unbefangen vernünftig. Er trennt die Wörter richtig aus dem Sprechstrom. Er setzt das schwierige Wort Fallrückzieher in Schrift, so gut wie das möglich ist, wenn man zwar weiß, was das ganze Wort bedeutet, nicht aber, aus welchen Teilen und Bedeutungen es zusammengefügt ist.

Das ist mutig und sinnvoll.

Das nächste Wort schreibt er nicht so, wie er es hört. Das und bekommt am Ende richtig ein d, nicht ein t. Weiß Onur schon, wie das Wort geschrieben ist, und ist sozusagen über unt hinaus schon bei und angekommen ? Oder hat er es sich als häufiges Wort im ganzen gemerkt? Auch das dritte Wort hat er nicht hörgenau geschrieben, sonst stünde da toa. Hat er das Wort oft gesehen und gelesen und weiß darum, welche Buchstaben drin vorkommen? Und hätte er das Wort groß geschrieben, wenn er den „Kasten“ gemeint hätte, in den man den Ball schießt? Es könnte sein, dass in seinem Erleben die Wörter Tor und Fallrückzieher dem nahestehen, was man im ersten Schuljahr Tunwörter nennt, und darum klein geschrieben sind.

Kurz: Wer will sicher sagen, warum Onur das zweite und dritte Wort so geschrieben hat, wie er es getan hat? Im Zweifel sollten wir gute Gründe vermuten! Auf jeden Fall ist zu sehen, wie Wörter, denen er lesend begegnet, die Wörter prägen, die er selber schreibt. Er schreibt nicht nur, wie er spricht.

Boris hat sich im zweiten Schuljahr ein ganzes Buch über Dinosaurier gemacht mit vielen Zeichnungen der großen Tiere und wenig Schrift. Warum fehlt ihm in Skelett das erste e? Hat er sich das l als el gedacht? Meint er eigentlich Skelette? Als Buchstabe heißt das t ja te. Aber das tt ist richtig da! Man hört das erste e beim Sprechen kaum.

Und schaut man sich in dem Buch um, entdeckt man: Brachiosaurus, Tyrannosaurus rex, Stegosaurus, Brontosaurus, Triceratops, Ichthyosaurus usw. sind richtig geschrieben. Aber dann steht da auch: Tyrannosaurus ist seer Geffrlich. Und: Triceratops ist ein Flansenfreser. Es ist wohl so, dass es Boris bei den Namen der faszinierenden Tiere wichtig ist, sie genau so zu schreiben, wie sie im Buche stehn, und das kriegt er auch hin.

Andere Wörter müssen für ihn nicht unbedingt der Konvention entsprechen. Aber jedes Wort hat er richtig abgegrenzt auf das Papier gesetzt. Das ist ihm schon selbstverständlich.

In beiden Beispielen sehen wir ein Kind am Werk, das schreibt, was ihm zu schreiben wichtig ist. Man sieht den Bildern und den Texten, dass diese Kinder stolz sind auf ihr Können, obwohl es im Sinne der Erwachsenen noch nicht vollkommen ist.

Alle vier Kinder haben offenbar viel Umgang mit korrekter Schriftsprache, man erkennt ihren Einfluss. Und man erkennt, welcher Segen für Schreibanfänger geübte, formstabile, leicht verfügbare Buchstaben sind, gerade in der langen Zeit des Übergangs von den originellen zu den konventionellen Schreibungen.

Ich halte es für verantwortungslos, Kindern in der Schule
einen sorgfältigen Schreibunterricht vorzuenthalten
und sie mit irgendeiner Anlauttabelle sitzen zu lassen.
Der handwerkliche Aspekt des Schreibens ist keine Nebensache!

Wenn Kinder so sicher über alle Buchstaben, also über die Schrift verfügen, dass sie sich ganz der Aufgabe widmen können, in einem Text zu spiegeln, was sie erlebt haben, mag ihnen schon im zweiten Schuljahr eine so zügige Schilderung gelingen wie Georg. Wir haben nicht zugesehen, als er mit seiner Freundin Fußball spielte. Wir lesen, was er geschrieben hat, lesen es leicht in der Abschrift, die ihm seine Lehrerin geschenkt hat, und wissen: Genau so war es! Schade, dass wir nicht mitspielen konnten!

Ein Fussballspiel